Neue Wege für Kirchen im säkularen Zeitalter?
Andrew Root, Die Kongregation im säkularen Zeitalter: Die heilige Zeit gegen die Geschwindigkeit des modernen Lebens bewahren (Grand Rapids, MI: Baker, 2021). 288 S.
Rezensiert von Dr. Rahel Siebald, zuerst erschienen in „Studies in Christian Ethics, 35 (4/2022), 872-76“.
Andrew Roots Serie Ministry in a Secular Age geht der Frage nach, was es bedeutet, Kirchen zu bauen in einer Zeit, die den Glauben an Gottes aktive Gegenwart in dieser Welt verloren hat. Auch wenn diese Frage die westliche Theologie seit mindestens einem Jahrhundert verfolgt, entwickelt Root im Gespräch mit verschiedenen Soziologen neue Einsichten darüber, wie diese Entwicklungen Jugendarbeit (Bd.1), den pastoralen Dienst (Bd.2) und die Kirchengemeinde als Ganzes (Bd. 3) verändern. Der dritte Band beginnt mit einer Anamnese der (evangelischen) Gemeinde, die zu dem Schluss kommt, dass der Patient unter Depressionen leidet. Depression, beschreibt Root als Krankheit unserer Zeit, weil sie "die Schattenseite” der Authentizität sei (S. 11). Das authentische Selbst, dem wir in der Spätmoderne nachjagen müssen, muss immer wieder auf neue, einzigartige Weise zum Ausdruck kommen. Während Root anerkennt, dass die Freiheit des Selbstausdrucks ein Geschenk sein kann, erzeugt sie auch den erschöpfenden Druck, ständig auf dem Weg sein zu müssen, mehr man selbst zu werden. Root glaubt, dass die Suche nach Authentizität mit ihrer ständigen Selbstoptimierung auch Gemeinden ergriffen hat: “The leadership of the congregation becomes obsessed with questions about what their church is, how it needs to change, how it needs to keep up, and how it must use its resources better” (p. 37). Gemeinden sind erschöpft von dem andauernden Druck, ihre spezifische Identität zu finden.
Der zweite Teil des Bandes spürt den Wurzeln der kirchlichen Depression nach und stützt sich dabei auf Hartmut Rosas Theorie der sozialen Beschleunigung. Der deutsche Soziologe fragt, warum Menschen besonders im Westen dem Gefühl heimgesucht werden, dass ihre Zeist ständig knapper zu werden scheint, obwohl sie doch ständig neue Technologien entwickeln, um Zeit zu sparen (Kapitel 6). Laut Rosa führen eben diese technologische Innovationen ironischer weise zu größerem Zeitmangel, indem sie die Möglichkeiten des Transports, der Produktion und Kommunikation ständig erweitern (Kapitel 7–9). Weil sich der Wandel auf so vielen Ebenen vollzieht und ständig neue Entscheidungen getroffen werden müssen, scheint die Gegenwart zu schrumpfen. Diese "komprimierte Gegenwart" (S. 82) ist das Ergebnis der von den ständig verkürzten Verfallraten sozialer Normen und Technologien. Das Wissen, das es braucht, sich heute in der Welt zurechtzufinden, ist morgen schon veraltet. Und so verspüren sowohl Einzelpersonen als auch Institutionen das dringende Bedürfnis, schneller zu leben, um mit dem Wandel Schritt zu halten. Diese Beschleunigung des Lebenstempos (Kapitel 10-11) weckt den Wunsch nach neuen technologischen Strategien, um Zeit zu sparen, und schließt so den Kreis der Beschleunigung, da die technologische Erfindung von Anfang an, der Ursprung der Beschleunigung des Lebens war. Rosas Habilitationsschrift, Social Acceleration, hat in den letzten zehn Jahren eine große Leserschaft gefunden, da sie scharfsinnig eine Situation beschreibt, in der sich viele Menschen im Alltag wiederfinden. Root perfektioniert Rosas lebendige Schreibweise noch weiter, indem er die soziologischen Befunde mit einer Vielzahl von persönlichen Geschichten über die praktischen Aspekte des pastoralen Dienstes im nordamerikanischen Kontext einbettet. Root führt denkwürdige Beispiele dafür an, wie Kirchen in diesem kulturellen Moment die Angst vor dem Verlust von Relevanz schüren, indem sie dieselben Methoden der Innovation nutzen, die die Menschen bereits beschäftigt halten. Root gelingt es hervorragend, relevante Gesellschaftstheorien so einzuführen, dass Christen sich, in der Welt, in der sie lieben zurechtfinden und die eigenen Verhaltensweisen kritisch hinterfragen können.
Wenn Theologen, das Gespräch mit der Soziologie suchen, gilt es darauf zu achten, wie die befreiende Kraft des Evangeliums in diesen Beschreibungen zum Tragen kommen kann. Wie könnten Bewohner der Spätmoderne Mechanismen der Beschleunigung entkommen? Root glaubt, dass politische Maßnahmen einen zu hohen Preis fordern: "Because the stabilization of Western modernity is built dynamically, it would be evil to simply force a slowdown that could quite easily push millions into poverty, chaos, and violence’ (S. 180). Da es unmöglich ist, die gesamte Gesellschaft zu verlangsamen, können Gemeinden höchstens hoffen, als Ruheoasen im anstrengenden Alltag zu bilden. Doch Root ist überzeugt, dass selbst diese bescheidene Hoffnung nicht erreichbar ist, da sich die Kirchen nach den gleichen Maßstäben organisieren wie der Rest der Gesellschaft: " Slowdown can only be justified by a higher good—growth. If you can’t show how the slowdown produces growth, you’ll always feel the hot breath of accusations of decline and coming failure" (S. 175). Diese berechtigten Sorgen schützen Roots Ansatz davor, sich in utopischen Visionen einer besseren Gesellschaft oder der Kirche als langsamer Sondergemeinschaft in einer beschleunigten Welt zu verlieren. Es bedeutet aber auch, in gewisser Weise die Diskussion darüber aufzugeben, was für ethische Spielräume die Bewohner der Spätmoderne vielleicht doch haben. Politische Handlungsspielräume auszuschließen ist auch schon bei Rosa Programm.
Im Ausblick von Soziale Beschleunigung strebte Rosa noch nach politischen Lösungen oder schloss zumindest die Möglichkeit eines gewissen Handlungsspielraum für das spätmoderne Subjekt nicht aus. Doch im Laufe der Jahre hat Rosa die Rettung des autonomen Subjekts aufgegeben und sich einem neuen Thema zugewandt. In der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule verortet Rosa den fundamentalen Antrieb unserer beschleunigten Gegenwart in der Entfremdung. Root merkt an, dass Rosas Darstellung der Entfremdung viel breiter ist als die seines Vorgängers Marx: " We are alienated not just from the means of production but from an open sense that the world (or some personal force within it) is speaking to us." Root erklärt weiter, " Mystery, the fullness of time, and transcendence are beat out of our relations" (S. 183). Das Gegenstück zur Entfremdung ist für Rosa "Resonanz", den Root folgendermaßen beschreibt: "a mode of relating to the world in which the subject feels touched, moved or addressed by the people, places, objects, etc. he or she encounters" (S. 196). Resonante Momente lassen das Leben wieder erfüllt erscheinen. Rosa selbst spricht sehr offen darüber, dass der Resonanzbegriff nicht mehr im rationalistischen Strang der Aufklärung zu Hause ist, sondern eher ein Erbe der deutschen Romantik (Hartmut Rosa, Resonance: A Sociology of Our Relationship to the World (Cambridge: Polity Press, 2019), S. 171). Der Kern der deutschen Romantik war die Hoffnung, die Schönheit des Mysteriums angesichts der abstumpfenden Rationalisierung des aufklärerischen Denkens zurückzugewinnen. Sie inszenierte die Hoffnung auf eine Wiederverzauberung der Welt, die diesmal nicht in der göttlichen Transzendenz, sondern in der mystischen Selbstdarstellung der immanenten Welt selbst ihren Ursprung hatte.
Vor diesem Hintergrund stellt sich für die Leser von Die Kongregation im säkularen Zeitalter eine wichtige Frage: Was geschieht mit einem theologischen Bericht, der göttliches Handeln durch die Linse des romantischen Resonanzbegriffs liest? Für Root entspringt das Unbehagen des säkularen Zeitalters dem Verlust jeder Möglichkeit, dem Göttlichen zu begegnen. Die Geschwindigkeit der Spätmoderne "hält die Menschen nicht nur zu beschäftigt, um in die Kirche zu gehen. Sie hält ihr Leben in einem so hektischen Tempo in Bewegung, dass all die transzendente Qualität des Geheimnisses, des göttlichen Diskurses und der Offenheit für spirituelle Begegnung in der Beschleunigung übertönt wird. Unsere Aufmerksamkeit ist zu sehr auf die immanenten Empfindungen der Neuheit der Innovation gerichtet, um die Stimme Gottes zu hören und die Schönheit zu sehen, zu der Gott uns einlädt" (S. 121). In Roots Ansatz wird horizontale Resonanz zur Voraussetzung für göttliches Handeln: Wenn der Pastor sein Volk wieder mit Gott verbinden will, muss er zuerst die Entfremdung überwinden, indem er es wieder mit der Welt verbindet. Momente der Resonanz geben dem Leben wieder Sinn. Diese Sinnhaftigkeit befreit die Gemeinden letztlich von der Depression, ihrem authentischen Selbst nachzujagen, und macht sie so bereit, Gott wieder zu begegnen und ihm zu dienen. Im dritten Teil des Buches soll daher gezeigt werden, wie Resonanz aussieht, wenn sie von der Kirche gelebt wird.
Das Geniale am Konzept der Resonanz besteht darin, dass es darauf hinweist, dass das, was wir in eiligen Zeiten suchen, nicht mehr Zeit ist (was ein flaches Verständnis von Ewigkeit als endloser Zeit widerspiegelt), sondern das, was der christliche Glaube die ganze Zeit versprochen hat – erfüllte Zeit. Darüber hinaus macht es deutlich, dass in der Welt der Gemeindewachstumsstrategien Resonanz nichts ist, was erzeugt werden kann. Momente der Resonanz kann man nur erwarten, sei es in einem überraschenden Blick auf den Sonnenaufgang, beim Anblick eines Kindes, das ein Eis genießt, oder in dem Gott, der eine Gemeinde zu einer bestimmten Vorgehensweise aufruft (S. 211). Diese Unkontrollierbarkeit macht es schwierig, das Konzept vollständig zu beschreiben, und dies ist das Beste, was wir einer Beschreibung am nächsten kommen: "Freude ist die perfekte Beschreibung für das Gefühl der Verbindungen, die Resonanz erzeugen. Freude ist eine Begegnung, ein gefühltes Geschenk des Verbundenseins ... Sie ist nie außerhalb der Gegenwart zu finden. Freude existiert immer im Jetzt, in der Wärme der gesammelten Erfahrungen der Zeit" (S. 197). Resonanz ist mehr als nur Freude am Moment, denn nachhallende Momente können Leben verändern, indem sie neue Geschichten katalysieren, die depressive Gemeinden wieder in den Dienst rufen (S. 209). Dieser prägende Aspekt der Resonanz wird bereits von Rosa selbst hervorgehoben: "In Momenten der Resonanz neigen "was ist" und "was sein sollte" zur Koinzidenz [sic] – und das gilt auch dann, wenn uns "das, was ist" völlig überrascht und wir spontan unsere Landkarte dessen, was sein sollte, neu justieren müssen." (Rosa, Resonanz, S. 170).
Während es keinen Zweifel daran gibt, dass Leben in einem Moment der Freude verändert werden können, fehlt Rosas Konzept jedes Kriterium, nach dem man zwischen guter und schlechter Resonanz unterscheiden könnte – welche Freude sollte unsere moralischen Landkarten verändern? (Rainer Bucher, "Was erlöst?', in Zu schnell für Gott?, Hrsg. Tobias Kläden und Michael Schüßler (Freiburg: Herder, 2017), S. 306). Die gleiche Frage gilt für Roots Werk: Welche Transformation zählt für eine gute Transformation in der christlichen Tradition? Die romantische Ordnung der Lust vor der Verwandlung lässt die Frage aufkommen, ob der konzeptuelle Raum noch für die theologische Hoffnung bleibt, dass genau die Dinge, an denen wir Freude finden, verwandelt werden könnten. Dies ist umso wichtiger, als die Leser der Reihe Ministry in a Secular Age erkannt haben müssen, dass im Kern der Logik der Beschleunigung Taylors authentisches Selbst steht, mit seinem ständigen Streben nach Ausdehnung, seiner Anhäufung von materiellen Gadgets, Feiertagen und Ähnlichem. Sollte es nicht etwas Raum geben, um das gierige Bedürfnis nach Erweiterung dieser Reichweite des authentischen Selbst in Frage zu stellen? Die Zwickmühle besteht darin, dass Root den wirtschaftlichen Status quo bewahren will, indem er auf den möglichen Verlust von Wohlstand für Millionen von Menschen verweist. Dies scheint seine eigene Kritik zu ignorieren, dass sich Zeitdruck unterschiedlich auf die sozialen Schichten auswirkt (S. 154–55). Indem er auf jede politische Veränderung verzichtet und im Namen des zukünftigen Verlusts von Wohlstand für seine (bürgerliche?) Leserschaft vorgeht, scheint Root jede Dringlichkeit zu verlieren, denen zu helfen, die gerade leiden.
Auch wenn der Systemwechsel den Rahmen eines Buches sprengen würde, das sich in erster Linie für die Kirche interessiert, fragt man sich, ob Root mit Rosa zu schnell die Hoffnung aufgibt, in einem fremden – oder vielleicht sogar entfremdeten – Land anders zu leben? Root macht deutlich, dass die Begegnung mit dem Wort Gottes der Schlüssel zur christlichen Erfahrung ist (S. 211), ohne jedoch zu erklären, wie diese Behauptung seine Darstellung des göttlichen Handelns prägt. Narrative Konzepte sind nicht ohne Schwächen, aber es wäre zum Beispiel interessant zu fragen, wie ein Konzept wie "Geschichte" funktionieren könnte, um unsere resonanten und nicht-resonanten Momente zusammenzuhalten. Roots Darstellung wird durch die Frage verunsichert: Was passiert mit all den Momenten, in denen wir uns nicht in Resonanz fühlen? Sind sie verloren, unwürdig, gelebt worden zu sein? Vielleicht können nur noch Theologen die Geschichte erzählen, wie Gott die Geschöpfe in die Geschichte Gottes hineinzog und ihnen so die Kohärenz verleiht, die sie in ihren eigenen Biografien angesichts der Fragmentierung des Lebens in der Spätmoderne nicht mehr entdecken können.
Roots zutiefst einfühlsames Ringen mit der Müdigkeit westlicher Gemeinden wird bei vielen seiner Leser Anklang finden. Seine genaue Schilderung der wichtigsten Texte Rosas macht ein komplexes und umfangreiches Werk in einem kurzen Band zugänglich und übersetzt die Einsichten gleichzeitig in einen neuen Rahmen – das Leben der protestantischen Gemeinden in Nordamerika. Noch wichtiger ist, dass Root Pastoren, Theologen und Gemeindemitgliedern hilft, bessere Leser unserer Zeit zu werden. Es bleibt die Frage, ob die Theologie im Dialog mit der Sozialtheorie noch weiter gehen könnte, indem sie versucht, noch mehr Löcher für das Evangelium in die geschlossenen Realitäten einer beschleunigten Moderne zu bohren.
ORCID iD
Kevin Hargaden https://orcid.org/0000-0002-5605-4011