Marketing nutzen, um das Evangelium zu verbreiten?
Emily Beth Hill, Marketing and Christian Proclamation in Theological Perspective (Minneapolis, MN: Lexington/Fortress, 2021). 248 S.
Rezensiert von Dr. Rahel Siebald, im engl. Original zuerst erschienen in „Studies in Christian Ethics, 36 (4/2023), 944-48“.
In Marketing and Christian Proclamation in Theological Perspective untersucht Emily Beth Hill die Beziehung zwischen Marketingmethoden und christlicher Verkündigung. In einer Zeit, in der Kirchen mit sinkenden Besucherzahlen zu kämpfen haben, scheint die Anwendung von gezieltem Marketing ein sinnvoller Weg, um Menschen mit kirchlichen Angeboten zu erreichen (S. 14). Wenn das der Fall ist, fragt Hills Buch, ob und inwiefern der Gebrauch von Marketingstrategien das Leben der Kirche verändert? Hill spitzt diese Frage noch weiter zu, wenn sie die These auf stellt, dass zwei Gemeinden, die oberflächlich gesehen, die gleichen Dinge tun (Gebet, Gesang, Abendmahl und Predigt), sich auf einer viel grundsätzlicheren Ebene unterscheiden können, weil die eine angetrieben ist von Marketingtechniken wie Zielgruppenorientierung während die andere durch Wort und Geist bestimmt wird („animated by the Word and the Spirit“) (S.5). Über die Frage hinaus, ob Kirchen Marketing nutzen sollten, um das „Evangelium als das ultimative Produkt“ (S. 6) zu verkaufen, untersucht Hill auch, wie sich Christen generell verhalten sollten, wenn es zur modernen Werbebranche und Massenkonsum kommt. Es ist deshalb beim Lesen des Buches hilfreich, sich vor Augen zu halten, dass es um die Kirche in der Welt des Marketings aus zwei unterschiedlichen Perspektiven geht: die Kirche als Institution, die sich Marketingstrategien bedient und die Kirchenmitglieder als Zielgruppe von Marketing in der Gesellschaft als Ganzes (S. 7).
Insgesamt schließt Hill sich der kapitalismuskritischen Haltung von Theologen wie Kathryn Tanner und William Cavanaugh an, möchte aber mit ihrer Studie nicht ein Urteil über das kapitalistische Wirtschaftssystem als Ganzes fällen, sondern Marketing als gesondertem Feld einer theologischen Analyse unterziehen (S. 8). Am Beginn dieser Analyse untersucht Hill die historische Entwicklung des „American Dream“ in drei Phasen. Die frühe Ära des Selfmademan, für die Abraham Lincoln repräsentativ steht, weckte die Hoffnung, dass jeder Bürger ungeachtet der familiären Umstände zu Reichtum und Erfolg gelangen könne. In der zweiten Phase nach dem zweiten Weltkrieg wurden Bürger zu Konsumenten, von denen erwartet wird, dass sie durch den Erwerb von möglichst vielen Konsumgütern zum Wachstum der Wirtschaft und damit zum Wohl der ganzen Nation beitragen. Die Ausbreitung des Neoliberalismus unter der Regierung von Ronald Regan bildet die letzte Stufe. Die Politik überlässt den Markt nicht mehr wie es eine liberale Wirtschafswissenschaft fordert sich selbst, sondern politisches Handeln priorisiert wirtschaftliche Interessen und setzt sich aktiv dafür ein. Der Bürger ist nicht mehr nur Konsument, sondern wird selbst zum Produkt, in dem er seine Arbeitskraft optimieren und erfolgreich verkaufen muss (S. 48-49). Diese größere Erzählung über die Entstehung des Massenkonsums in den USA dient als Hintergrundfolie für das zweite Kapitel, in dem die Grundprinzipien von Marketing beschrieben werden.
Obwohl Marketing nach der Selbstaussage von Experten oft als neutrales Werkzeug gilt, das zu allen möglichen Zwecken eingesetzt werden kann, behauptet Hill, dass Marketing Menschen unbemerkt steuert (im Sinne von Focaults governmentality): „[M]arketing is not neutral but is a vast network of activities that intercede in daily life to guide individuals toward the ends of business and economic growth in a way that feels like freedom and self-expression.“ (S. 76). Um Verbraucher in dieser Weise zu lenken, braucht es neben einer gezielten Kommunikationen mit potentiellen Kunden, vor allem auch Werkzeuge zur Sammlung von Daten über Verbraucher (S. 78). Bei der Analyse von Strategien zur Datengewinnung kommt Hill vermutlich ihre eigene Berufstätigkeit im Marketing zu gute. Neben bekannten Methoden, wie der Fokusgruppe zur Produktentwicklung, beschreibt Hill unter anderem „Neuromarketing“, bei dem Gehirnaktivitäten von Testpersonen im Zusammenhang mit der Produktauswahl untersucht werden und „big data.“ Letzteres ist besonders spannend, weil potentielle Verbraucher der Datensammlung hier nicht (explizit) zustimmen, sondern Daten im Internet oder Treuekarten gesammelt werden. Gerade wenn es um „big data“ nicht nur im Internet, sondern im Einkaufszentrum vor Ort geht, gibt es bei Hill noch einiges zu lernen.
Was aber passiert mit den gesammelten Daten? Hill beschreibt anschaulich, wie Werbung für Werbetexter aus einem inneren Dialog mit dem imaginären „Du“ des Verbrauchers entsteht, der durch Erzählungen und Emotionen vom angebotenen Produkt überzeugt werden muss (S. 110). Entgegen manch klassischer Kritik, glaubt Hill nicht, dass es Marketingexperten darum ginge, Bedürfnisse bei Verbrauchern zu wecken, die diese von sich aus gar nicht hätten. Vielmehr argumentiert sie, dass die gesammelten Daten über die Träume und Ängste der Bürger genutzt würden, um die Aufmerksamkeit auf Produkte zu lenken, die oft nichts mit dem eigentlichen Bedürfnis zu tun haben (z. B. eine Landschaft, die mit einer Zigarettenmarke in Zusammenhang gesetzt wird). Mit der Behauptung, dass es sich um reale Bedürfnisse und Wünsche handelt, gibt sich Marketing als ein Angebot für den Verbraucher aus, aber dieses „für dich“ verschleiert, dass das eigentliche Ziel der wirtschaftliche Erfolg jener Unternehmen ist, die das Marketing beauftragen (S. 117- 18). In der zweiten Hälfte ihres Buches wendet sich Hill der Frage zu, wie sich das strategische „für dich“ des Marketings von Luthers Behauptung unterscheidet, dass Gottes Wort immer zum Wort „für dich“ (bzw. für mich, pro me) werden muss (S. 135). Hill gliedert die verbleibenden zwei Kapitel entlang ihrer Erkenntnisse über Luthers Theologie. Der Klarheit ihrer Argumentation hätte es jedoch gut getan, das Material entlang der Doppelfrage zu präsentieren, die sie in der Einleitung stellt: 1) Sollten Kirchen Marketing einsetzen, um Menschen für das Evangelium zu gewinnen? 2) Wie sollten Christen in ihrem täglichen Leben auf Werbung reagieren?
Die erste Frage wird durch die Untersuchung von Luthers Theologie der Verkündigung beantwortet. Hills Analyse zeigt, dass für Luther das eine Wort eigentlich zwei Worte sind. Das Gesetz als das erste Wort legt die Gefangenschaft des Menschen in der Sünde offen. Dieses Urteil ebnet den Weg für das zweite Wort der Befreiung, das Evangelium, das die Zuhörer von ihren eigenen Rechtfertigungsversuchen befreit. Es gilt also: Das Gesetz ist das Wort, das Gott gegen den Menschen spricht, während der Mensch im Evangelium Gott als der Gott, der für den Menschen ist, begegnet. Durch eine gründliche Untersuchung von Luthers Galaterkommentar hebt Hill hervor, dass für den Reformator die „Verheißung“ des Wortes in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Offenbarungswerk Christi steht. Das Sühnopfer des Kreuzes mag in sich selbst wirksam sein (objektiv), aber es kann nur dort offenbar werden, dass dieses Opfer „für mich“ erbracht wurde, wo das verkündete Evangelium angenommen wird (subjektive Heilsaneignung). Hill schlussfolgert, dass sowohl christliche Verkündigung als auch Marketingstrategien mit personalisierten Botschaften arbeiten. Doch während die Botschaft der Predigt, dass Christus tatsächlich für uns gestorben ist, wirklich zu unserem Besten ist, beeinflussen Marketingmethoden Konsumenten, sodass es dem finanziellen Erfolg von Unternehmen dient (S. 171). Mit diesem Urteil fordert Hill natürlich dazu heraus, Marketingstrategien generell kritisch auf ihre eigentlichen Ziele hin zu befragen, aber es lässt die Frage offen, ob es ethisch vertretbar ist Marketing in der Kirche für die „richtigen Ziele“ einzusetzen. Hills Ausführungen zu konkreten kirchlichen Praktiken bleiben absichtlich vage, da sie mehr daran interessiert ist, die tieferen Prinzipien von Marketing zu analysieren – so deutet sie zum Beispiel an, dass es einen Unterschied zwischen der Gestaltung eines Logos und einer „full branding strategy“ geben muss, ohne diesen Unterschied näher zu untersuchen (S. 174).
Nachdem Hill im zweiten Kapitel festgestellt hat, dass im Marketing Kundendaten gesammelt werden, um sie in ihren Werbestrategien zu nutzen, geht sie nun einen Schritt weiter und behauptet mit Luther, dass Menschen nicht wissen, was sie brauchen, sondern dass Gott ihre wahren Bedürfnisse offenbaren muss (S. 172). Dies legt auch nahe, dass das Evangelium nicht notwendigerweise die Wünsche erfüllt, die Kundenbefragungen aufdecken, sondern dass das Evangelium solche Wünsche hinterfragt und das Leben von Personen völlig neuausrichtet (S. 178). Folglich ist Hill besorgt, dass Kirchen, die Marketingtechniken einsetzen, Gefahr laufen, nichts weiter als ein „therapeutisches Dienstleistungszentrum“ (S. 177) zu werden. In einer solchen Kirche wird das Evangelium nicht mehr so gepredigt, dass Menschen Christus ähnlicher werden, sondern das Evangelium wird den Menschen, wie sie schon sind angepasst. Dies scheint die wichtigste Erkenntnis von Hills These zu sein und hinterfragt unmittelbar unsere Predigtpraxis: Geht es uns bei der Verkündigung darum, das Evangelium als Antwort auf menschliche Bedürfnisse zu präsentieren, oder predigen wir es als die Kraft, die die tiefsten Sehnsüchte von Menschen hinterfragen und verändern kann?
Angesichts dieser fundamentalen Einsicht überrascht es, dass Hill sich in der konkreten Anwendung ihrer Thesen vor allem mit dem Problem von Datensammlung und staatlicher Überwachung beschäftigt. Hill empfiehlt, dass Pfarrerinnen und Pfarrer sich nicht auf Apps verlassen sollten (wie in manchen US-Megakirchen), um die Anwesenheit ihrer Mitglieder zu verfolgen (tracken), sondern dass es darum gehe den Gottesdienstbesuchern einzeln und persönlich zu begegnen – so wie Gott auch persönlich seine Geschöpfe kennt und zu ihnen in Beziehung steht (S. 176-78). Abgesehen von der Frage, inwieweit Gottes allumfassende Kenntnis seiner Geschöpfe wirklich als Vorbild dienen kann, wenn es um die Beziehung von Pastorin und Gemeindemitglied geht, lenkt dieser Fokus auf Datenüberwachung von den eigentlichen Erkenntnisgewinn in Hills Arbeit ab: Anders als in dystopischen Visionen der Zukunft, ist die Ansammlung von Daten nicht das Hauptproblem, dem Christen aus geistlicher Perspektive begegnen. Das eigentliche Problem besteht vielmehr darin, dass klassische Marketingansätze Menschen in ihrem Gewordensein einfach bestätigt, wo das Evangelium sie verändern will. Hill hat dieses Problem in hervorragender Weise aufgezeigt, und es wäre interessant gewesen, die Implikationen dieser Erkenntnis tiefer zu ergründen. Stattdessen widmet sich der Großteil der verbleibenden Kapitel und der Schluss ihrer zweiten Frage, wie sich der einzelne Christ in einer von den Ansprüchen des Marketings gesättigten Welt bewegen kann.
Hill zeigt auf, dass für Luther zur Predigt auch immer die Sakramente gehören – und damit ein Bezug zur Schöpfung gesetzt ist: “For Luther, the knowledge that God is for us and loves us does not lead to an otherworldly asceticism. Rather, reconciled to God in Christ human beings are reoriented to the creation around them and recognize what God has provided as gifts, not to hoard, but to be thankful for and to be given away in love and service to their neighbors’ (S. 161). Christen dürfen dankbar sein für die Versorgung Gottes, die als Geschenk nicht an irgendwelche Bedingungen geknüpft ist. Dies entscheidet sich fundamental von den Angeboten, die Verbrauchern in der Werbung entgegen treten: Bedürfnisse werden nur erfüllt, wenn man das Produkt kauft (S. 174). Hill schlägt Dankbarkeit als die Tugend vor, die Menschen von den Gesetzen einer Welt befreit, die von den Versprechen des Marketings bestimmt ist (S. 192). Diese Dankbarkeit kann ihren praktischen Ausdruck in Gastfreundschaft finden, von Hill besprochen im Schlussteil unter der programmatischen Überschrift „The Freedom of a Christian in America“. Laut Hill kann die Tugend der Gastfreundschaft verändern, wie wir uns zu dem verhalten, was wir besitzen. Kaufe ich das neuste Küchengerät, um bei einem bestimmten Lebensstandard mitzuhalten, einen bestimmtem Satus zu erreichen. Oder denke ich daran, wie dieses Produkt es mir einfach macht, Menschen zum Essen einzuladen und ein guter Gastgeber zu sein. Hier stellt sich natürlich die Frage, wie radikal Hills Ansatz wirklich ist. Hill ermutigt, dass schon kleine Gesten – der Extragast beim Sonntagsessen oder der Kontakt mit den Nachbarn ein Anfang sind, um anders zu leben (S. 207). Hills Praxisbezug ist damit also niedrigschwellig, reißt aber zugleich die Frage auf, ob sie zu unkritisch mit der Ungleichverteilung umgeht, die ja durch den „American Dream“ und andere kapitalistische Mechanismen entsteht.
Hill glaubt, dass in Momenten der Gastfreundschaft ein Rollentausch stattfinden kann, bei dem Gastgeber selbst zu Empfängern, zu Beschenkten werden können (S. 206). Während also Gäste nicht nur die Empfangenden bleiben, ist natürlich trotzdem klar, dass Gastgeber und Gäste nach dieser Begegnung wieder in ihre ganz eigenen Lebensumstände mit ihren jeweiligen materiellen Grundbedingungen zurückkehren. Hill bleibt zurückhaltend, wenn es darum geht, zu beschreiben, wie US-amerikanische Christen tatsächlich aufhören können, den „American Dream“ zu träumen, und das Unrecht aufzuarbeiten, dass denjenigen am unteren Ende der „Leiter des Erfolgs“ dabei zugefügt wurde und wird. Erst auf der letzten Seite ihres Buches weist Hill ihre Leser darauf hin, dass es helfen kann, die eigenen Konsumentscheidungen mit mehr Zeit zu treffen und so die eigenen Motive zu hinterfragen (S. 210). Ihre Entscheidung, nicht ausführlicher darauf einzugehen, wie Konsum sinnvoll beschränkt werden könnte, kann mit dem Anliegen zusammenhängen, dass Hill keine Gesetze für „freie Christenmenschen“ (Luther) schaffen will (S. 203). Hill selbst hat jedoch gezeigt, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für Luther nicht bedeutet, das Gesetz ganz aufzugeben, sondern dass es um eine rechte Ordnung geht, in der das Gesetz nach dem Evangelium kommt (S. 153, 189). Auf der Grundlage von Hills Forschungen wäre es sicherlich interessant zu untersuchen, was es bedeutet, „genug“ zu haben. Nimi Wariboko geht sogar so weit zu sagen, dass Gottes Schöpfung (nur) dann genug für alle bietet, wenn wir Güter gerecht verteilen (siehe Nimi Wariboko, The Split Economy: Saint Paul Goes to Wall Street (New York: SUNY Press, 2020)). Noch kritischer könnte man fragen, ob theologische Ansätze, die Dankbarkeit für den Reichtum der Schöpfung in den Vordergrund stellen, uns in der Regel genauso unverändert lassen wie Marketing, wenn es sich nur als Antwort auf unsere Bedürfnisse präsentiert.
Es bleibt also offen von Hill weitergehend zu fragen, wie gerechte Güterverteilung im politischen und kirchlichen Diskurs gelingen kann. Abgesehen davon erinnert ihre Analyse eindrücklich daran, dass in einer Welt des Marketings, wo es darum geht menschliche Bedürfnisse zu analysieren und zu erfüllen, das Evangelium eine ganz andere Aufgabe hat – unsere Wünsche und Sehnsüchte neuauszurichten und zu verändern.