Berufung: Zwischen Zuspruch und Anspruch
Neben Versöhnung, Gnade, Liebe und Glauben ist Berufung wohl einer der zentralen Begriffe christlichen Glaubens. Und natürlich fallen einem auch sofort biblische Beispiele ein – Abraham, der aus seinem Land herausgerufen wird, Mose und der brennende Dornbusch, die Berufung der Jünger. Von Dr. Rahel Siebald und Dr. Jürgen Schulz.
04. März 2025

Nachfolge beginnt mit einem Ruf. Gleichzeitig birgt von Berufung zu sprechen eine große Schwäche: Der Begriff steht in der Gefahr, Gottes Reden zu reduzieren – auf einen individuellen Moment. Der Moment, in dem uns durch Gefühle, Worte, Eindrücke deutlich wurde, was unser (Lebens-)Weg sein wird. So, als würde Gott einmal reden und dann würden wir alleine weitergehen. Aber ist das wirklich, wie Christen ihren Weg mit Gott beschreiben (sollten)? Und welche Bedeutung hat im Leben von Christen dann die Stimme der Gemeinschaft? Wenn Berufung nämlich ein heiliger, individueller Moment mit Gott ist, wer hat dann bitte das Recht zu widersprechen?
Orientierung
Abraham hört Gottes Stimme direkt und persönlich. Und trotzdem ist das Gespräch mit Gott eingebettet in eine Geschichte und eine Gemeinschaft von Menschen. Am Weg Abrahams werden Aspekte von Berufung deutlich, die auch heute noch Orientierung bieten. Über Abrahams Berufung schreibt Marilyn Robinson: „Abraham war (...) ein Wanderer ohne Erbe, ohne Land und ohne einen sicheren Ort, um seine Toten zu begraben. Er hatte jedoch die besondere Aufmerksamkeit Gottes, der ihm immer wieder entgegentrat mit Verheißungen, mit Segnungen und [auch] mit einer Wucht von Ansprüchen. Nichts davon ist an Bedingungen geknüpft, aber durch seinen “Glauben” ist Abraham geeignet, sie zu empfangen.”1 (Reading Genesis, 2024, 15, unsere Übersetzung.)
Berufung ist der Treffpunkt zwischen Zuspruch und Anspruch. Robinson reißt hier einige wichtige Horizonte rund um das Thema Berufung auf. Von Gott gerufen zu sein, ist Zuspruch und Anspruch. Von Gott gerufen zu sein, ist Ehre, Freude und Last zugleich. Gott tritt mit seinem Anspruch einfach in das Leben von Abraham hinein. Und Abraham ist offen für diese Ansprach Gottes. Er ist ein Glaubender – schon vor der Berufung.
„Von Gott gerufen zu sein, ist Zuspruch und Anspruch. Von Gott gerufen zu sein, ist Ehre, Freude und Last zugleich.“
Freiheit
In den Worten der systematischen Theologie könnte man an dieser Stelle sagen, dass Gottes Berufung zur Heiligung des Menschen gehört und nicht zur Rechtfertigung. Aus Gnade werden Sünder gerechtfertigt. In den Worten Luthers könnte man sagen, Jesu Tod befreit Menschen von Sünde, Tod und Teufel. Aber mit den Reformatoren ist auch immer deutlich, dass Freiheit nie nur eine Befreiung von einem alten Leben, übermächtigen Strukturen oder sogar Todesmächten ist, sondern immer auch eine Befreiung zu oder für. So wie Gottes Weg mit Abraham gerade erst beginnt, als er sein Land verlässt, so beginnt ein Weg der Heiligung für Menschen, nachdem sie am Kreuz Umkehr erlebt haben. Mit der Umkehr werden sie zu einer neuen Freiheit berufen.
Aber befreit wofür? Gibt es einen konkreten Weg, auf den Gott Menschen ruft, die in die Nachfolge treten? Was unterscheidet Berufung von dem Versprechen, dass Menschen sich in einer
verbindlichen Lebensgemeinschaft oder Ehe geben? Und wie passen Freiheit und Berufung zusammen? Wo ruft uns Gott tatsächlich unwiderstehlich auf einen Weg, und wo hätten wir auch genauso einen anderen einschlagen können, beziehungsweise wo wartet Gott gnädig auf unser „Ja“? Und wie ist es eigentlich mit Gefühlen und Berufung? Finden wir Berufung vor allem dadurch, dass wir erleben, dass uns etwas begeistert und nicht mehr loslässt? Dies ist für Dave Kraft wesentlich, wenn es um die Berufung zum Leitersein geht: „Wer solch ein klares Wort von Gott empfangen hat, weiß sicher, dass er nicht anders kann, als seine Berufung zu leben. Da brennt ein inneres Feuer, da ist ein Ziehen in Richtung Leitungsverantwortung, das nicht einfach menschlich erklärt werden kann. Ein solcher Ruf kommt von jemand Höherem, nicht aus uns selbst, von Gott, nicht von Menschen. Man kann davor nicht davonlaufen. Und in nicht wenigen Fällen sehen andere bereits etwas in uns, das wir noch nicht sehen können.“ (Langstreckenleiter, S. 76)
Berufung
Berufung berührt das ganze Leben. Emotionen, Leidenschaft und Begeisterung spielen in unsere Berufungswege mit hinein. Reduzieren wir Gottes Ruf aber auf das persönliche Empfinden, haben wir nur eine Hollywood-Version von Berufung. Wir verwandeln es in ein Verliebtheitsgefühl, das kommen und gehen kann. Wie wir über Liebe, Ehe und Beziehung reden, kann hier ein ganz gutes Beispiel dafür sein, wie wir über Berufung sprechen. Wenn man sich von der Überbetonung von Gefühlen in Beziehungen, die uns Hollywood oder Disney beigebracht haben, abgrenzen will, hört man oft: Liebe ist eine Entscheidung, also einfach ein ganz rationaler Vorgang – ein Punkt der Entscheidung, auf den ich mich immer wieder zurückberufen kann. Aber genau, wie Liebe nur als Gefühl zu beschreiben nicht genug ist, ist es auch nicht genug, nur von einer Entscheidung zu sprechen. Beide reduzieren Liebe auf einen individuellen Moment. Ich alleine erlebe ein spontanes Gefühl oder treffe eine logische Entscheidung, auf der ich dann versuche meinen weiteren Weg aufzubauen. Das sind natürlich zwei Karikaturen, aber was ganz eindeutig fehlt, ist der Kontext, oder, um es mit Abrahams Berufungsweg auszudrücken: Es fehlen die drei G – Gemeinschaft, Geschichte und das Gespräch mit Gott.
Jede Berufung hat eine eigene Geschichte. Auch in Abrahams Leben passierte sie nicht in einem luftleeren Raum. Sie ist eine Einladung auf einen Weg, geprägt von Zuspruch und Anspruch. Vor Abraham liegt kein fertiges Lebenskonzept. Abraham bleibt im Gespräch mit Gott und erfährt nach und nach, was die nächste Etappe seiner Reise ist. Zu den Etappen gehören Wegbegleiter und Gesprächspartner. Sie sind von wesentlicher Bedeutung. Mit jeder Begegnung, vor allem mit den Königen anderer Völker, dem König von Ägypten, Abimelech und Melchisedek, wird immer klarer, dass Abraham ein Mensch mit einem außergewöhnlichen Ruf ist. In der Gemeinschaft mit Menschen, wird die Besonderheit der Berufung Gottes für Abraham greifbar.
„Die Geschichte mit Gott ist nicht einfach eine logische Fortsetzung des menschlich zu Erwartenden. Sie entwickelt sich oftmals genau entgegengesetzt.“
Erlebnisse
Geschichte ist also mehr als unsere eigene Lebensgeschichte. Sie ist aber nie weniger. Die eigene Lebensgeschichte prägt uns. Die Frage ist: „Wer bist du geworden?“ Und hier betont der Theologe Oliver O’Donovan zu Recht, dass es nicht unsere Gaben sind, die uns einzigartig machen – auch andere können „unsere“ Gaben haben. Unser ganz eigener Lebenslauf macht uns speziell und einzigartig (Finding and Seeking, 32). Das, was du erlebt hast, hat so niemand anders erlebt. Und mitten in dieses einzigartige Leben hinein spricht Gott. Berufungserlebnisse sind oft also eine Antwort auf das, was sowieso schon in deinem Leben passiert.
Wenn du dich also fragst, wozu du berufen bist, können ganz grundsätzliche Frage hilfreich und weise sein: Was war dein wichtigstes Kindheits-, Jugend- und Erwachsenenerlebnis? Welche Personen tauchen darin auf? Wenn du dein Leben in Kapitel teilen würdest, welche Überschriften hätten sie? (Diese Fragen kommen aus dem hilfreichen Buch Stories we live by von Dan P. MacAdams.) Aber auch, wie hast du Gott bisher erlebt – gab es Erlebnisse der Befreiung, Veränderung, des Schweigens oder Redens Gottes? Und weil wir nicht unbedingt die besten Leser unserer eigenen Geschichte sind: Wie sehen andere Menschen dich? Woran erinnern sie sich? Was macht dich aus und war dir schon immer wichtig?
Während wir das Leben gestalten, unterbricht Gottes Stimme unser Schaffen. Auch das wird an Abrahams Geschichte deutlich. Sie ist geprägt von göttlichen Unterbrechungen. Nach Jahren des Schweigens redet Gott und führt den Weg auf einen ganz anderen Pfad weiter, als Abraham es sich jemals hätte vorstellen können. Nicht selten werden Menschen, die Gottes Anspruch der Berufung ernstnehmen, andere Wege gehen, als sie selbst vermutlich gewählt hätten. Die Geschichte mit Gott ist nicht einfach eine logische Fortsetzung des menschlich zu Erwartenden. Sie entwickelt sich oftmals genau entgegengesetzt.
Schnittstelle
Der Dichter David Whyte vergleicht menschliche Ambitionen und Zielsetzungen mit der Erfahrung von Berufung: „Wir können den Lichtstrahl unseres Ehrgeizes darauf richten, eine bestimmte Ecke unserer Zukunft auszuleuchten, aber letztendlich kann er uns nur die Träume offenbaren, die wir sowieso schon kennen. Ehrgeiz, sich selbst überlassen, (...) wird immer stumpfsinnig, sein einziges Ziel ist die Schaffung immer größerer Imperien der Kontrolle; aber eine wahre Berufung ruft uns über uns selbst hinaus, bricht uns dabei das Herz und demütigt, fokussiert und erleuchtet uns dann über die verborgene, eigentliche Natur der Arbeit, die uns am Anfang angezogen hat.“ (Consolations, 8-9, unsere Übersetzung)
Wenn wir den Weg vor uns glasklar beschreiben können, dann handelt es sich wahrscheinlich nicht um eine Berufung. Das liegt daran, dass Berufung sich an der Schnittstelle von Gemeinschaft, Geschichte und Gespräch mit Gott bewegt. Sie entfaltet sich immer weiter vor uns. Es gibt sehr klare Momente, wo wir wissen: ein mutiger Schritt ist angesagt, aber immer wieder finden wir uns auch in einer Geschichte, deren Ende wir noch nicht kennen, und sind angewiesen darauf, dass andere in unser Leben hineinsprechen und Gott uns auf unseren eingefahrenen Wegen unterbricht.
Wenn wir Berufung so definieren, gibt es dann überhaupt irgendeine Klarheit? Wie weit kann ich mich von einem einmal eingeschlagenen Weg entfernen? Wir brauchen die Klarheit von Berufung, das innerliche Brennen wie es Kraft genannt hat, um nicht wegzulaufen, wenn das Leben gerade richtig schwierig ist. Wenn es leichter wäre aufzugeben ist es Gottes Zuspruch und Anspruch, die uns halten.
Lebensstil
Mit Veränderungen im Leben kann sich auch die Berufung verändern. Neue Wege können sich auftun, eine neue (unvorhergesehene) Etappe beginnen. Wir können Berufung deshalb nicht einfach wie einen Kompass behandeln und erwarten, dass wir diese eine Berufung haben, die uns immer die Richtung zeigt. Gerade weil wir im Gespräch mit Gott bleiben, bedeutet Leben auch stetig Veränderung. Hier kehren wir im Prinzip zum Anfang zurück: in Berufung steckt Ruf – steckt die Idee einer Beziehung. Wir bleiben nicht einem bestimmten Lebenskonzept treu, sondern einer Person. In diesem Fall Jesus. Wir wissen nicht genau, wie unser Weg aussieht oder bis zum Ende weitergeht, aber wir lernen seine Stimme kennen. Wir sind Teil einer Geschichte, die Gott schreibt und bleiben Teil einer Gemeinschaft, ohne die wir unsere Reise nicht gestalten können.
Berufung als Kategorie bringt die Gefahr mit sich, nach Sicherheit in Lebensentscheidungen zu verlangen, die es nicht gibt – wo wir auch als Christen Schritte aufs Wasser gehen müssen. Berufung umfasst das Vertrauen, dass da mehr ist als wir jetzt gerade sehen können. Berufung zu erleben, setzt also Aufmerksamkeit voraus. Wir hören auf die Geschichte, in der wir stehen, auf das, was Gott sagen will, aber auch auf die Gemeinschaft, in die Gott uns hineinstellt. Berufung ist kein Selbstzweck. Berufung bezieht uns ein, erfüllt uns vielleicht sogar immer wieder mal mit Freude und einem Gefühl der Bestimmung, aber sie ist immer auf mehr gerichtet als unseren eigenen Lebenssinn. Berufung ist am Ende vielleicht mehr Lebensstil als Lebensziel. Berufung bleibt Zuspruch und Anspruch. Und auf diesem Weg, den wir gegangen sind, den Gesprächen mit Gott und der Gemeinschaft mit unzähligen Menschen ergibt sich eine unverwechselbare Geschichte.